Kurzgeschichte von Pia Merkel zu “Room in New York“, Edward Hopper

Rot

 

Mit Bedacht nahm sie das rote Kleid aus dem Schrank, ihr Neustes. Sie streifte es über.

Er hatte es noch nie zuvor gesehen und die Verkäuferin hatte ihr versichert, es würde ihr wunderbar stehen. Behutsam strich sie mit ihren Fingerspitzen über den samtigen Stoff.

Auch die Fingernägel hatte sie sich lackieren lassen, sogar auf den Rat ihrer abscheulich perfekten Kollegin gehört und ein teures Nagelstudio aufgesucht. Kurz schauderte sie, als sie an die Mittagspause zurückdachte, in der diese plötzlich nach ihrem Handgelenk gegrapscht hatte, ihre Fingernägel gemustert und mit einem übertriebenen Seufzen eine Visitenkarte aus ihrem Portemonnaie gezückt hatte. „Die bringen sogar das wieder in Ordnung.“, hatte sie gesagt.

Wie sie sie hasste. Ihre perfekten Nägel, ihre perfekten Kurven, ihre perfekten Haare. Wie sie alle Blicke immer auf sich zog. Sogar seinen Blick. Obwohl der doch eigentlich nur ihr gehören sollte.

Aber an diesem Tag sollte alles perfekt sein, sollte auch sie perfekt sein. Sie straffte die Schultern und band sich die langen, dunklen Haare zurück. Vielleicht lag es ja daran, dass er sie so selten ansah. Vielleicht trug sie ihre Haare zu oft offen. Sie beschloss das in Zukunft zu ändern. Als sie nach dem Lippenstift griff, zitterten ihre Hände. Um sich selbst zu beruhigen, warf sie ihrem Spiegelbild ihr umwerfendstes Lächeln zu. Eine Erinnerung huschte durch ihren Kopf. Ihre Mutter hatte sich zu ihr hinuntergebeugt, die Hand auf ihrer Schulter. „Sei stark“, hatte sie gesagt, „und vegiss nie zu lächeln.“ Flüsternd wiederholte sie die Worte. Immer zu lächeln hatte sie gelernt. Doch selbst das gelang ihr heute nicht wirklich. Gegen die Blässe tupfte sie sich noch etwas Rouge auf die Wangen.

Als er klingelte, warf sie einen letzten Blick in den Spiegel und war zum ersten Mal seit Wochen zufrieden mit ihrem Aussehen. Wenigstens einigermaßen.

„Er wird mich ansehen.“, dachte sie. „Er wird mich anlächeln, fragen wie mein Tag war. Heute wird er es tun. Heute…“ Sie öffnete die Tür. Er sah sie an. Runzelte die Stirn. Ging an ihr vorbei, ließ sich auf einen Sessel fallen, öffnete die Zeitung.

Sie ließ sich auf den Klavierhocker sinken. Kämpfte mit den Tränen. Aus diesem Blickwinkel konnte sie nur sein braunes, kurzes Haar hinter der Zeitung hervorschauen sehen. Wie sie ihn hasste.

Sie legte einen perfekt manikürten Finger auf eine Taste. Einen perfekt manikürten Finger für den er sich nicht interessierte. Für den er sich nie interessieren würde. „Alles umsonst.“, dachte sie und drückte die Taste.

Verwirrt sah er auf. Sah, wie sie in anstarrte. Räusperte sich und fragte: „Wie geht es eigentlich deiner Kollegin?“

Sein Gesicht verschwamm vor ihren Augen. Heiße Wut durchströmte ihren Körper, überflutete sie, floss bis in ihre Fingerspitze. Doch die lag nun nicht mehr auf der Klaviertaste.

Blut tropfte von dem schweren Metronom, das kalt in ihrer Hand lag. Sie ließ sich auf den Klavierhocker sinken, sah zu wie sein Blut auf ihr Kleid tropfte. „Rot.“, dachte sie, „Rot ist eine schöne Farbe.“ Und sie lächelte.

Pia Merkel, 10. Klasse