Edward Hopper: Morning Sun

 

Freiheit in der Fremde

 

Ein Lichtstrahl kitzelt ihre Haut. Dann noch einer. Einer kitzelt sie am Zeh, der nächste ihre Nase. Sie zieht ihre Beine zu sich, dreht ihren Kopf auf die andere Seite, versucht weiterzuschlafen. Sie will noch nicht aufstehen, will in ihrer eigenen Traumwelt bleiben, wo sie sich um nichts sorgen muss, wo alles gut ist.

Doch als ein gleißender Lichtstrahl auf ihr Gesicht fällt und sie die Wärme der aufgehenden Sonne spürt, kann sie es nicht weiter ignorieren: Ein neuer Tag ist angebrochen, der Kreislauf beginnt von vorne.

Langsam öffnet sie die Augen. Erst das eine, dann das andere. Den Kopf auf dem weichen Kissen, die Haare wie einen Schleier um sie ausgebreitet, starrt sie an die karge graue Decke des kleinen Zimmers. Niemals hätten ihre Eltern das erlaubt, mit offenen Haaren zu schlafen. Der strenge Dutt am Hinterkopf hatte sie ihr ganzes Leben lang begleitet, am Tag wie in der Nacht. Gehasst hatte sie es, wenn die Haare an der Kopfhaut zerrten, bis sie Kopfschmerzen bekam, und wenn sie die anderen Mädchen spielen und toben sah, die langen Haare im Wind wehend.

Langsam setzt sie sich auf. Sie fasst ihre langen blonden Haare, die ihr in weichen Wellen über den Rücken fallen, zusammen, dreht sie ein, und steckt sie am Hinterkopf zu einem Dutt zusammen. Die Frisur, die sie ein Leben lang gehasst hatte, ist nun das einzig Vertraute, das ihr geblieben ist. Es gibt ihr ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit, auch wenn sie genau weiß, dass das ein Trugschluss ist.

Sie zieht ihre nackten Beine zu sich heran und richtet ihren Blick auf das große Fenster, das der einzige Grund ist, warum die Wände sie noch nicht mit ihrer Kahlheit und Trostlosigkeit erdrückt haben. Draußen ist es hell, der Himmel ist klar und blau, keine Wolke ist zu sehen. Doch dafür hat sie keinen Blick übrig. Ihre Augen ruhen auf den Dächern der unzähligen Gebäude, die weit in den blauen Himmel ragen. Sie wirken so surreal, wie alles in dieser Stadt, die nicht die ihre ist.

Langsam steht sie auf, ihre nackten Füße machen kein Geräusch auf dem kalten Steinboden, als sie an das geöffnete Fenster tritt. Sie lässt es nachts offen, um den Geräuschen der Stadt zu lauschen. Geräusche, die sie nachts, wenn sie wieder einmal nicht in den Schlaf findet, daran erinnern, dass sie nicht alleine auf dieser Welt ist, auch wenn es ihr so vorkommt. Geräusche, die sie daran erinnern, dass sie noch am Leben ist, dass nicht alles ohne Hoffnung ist.

Ihr Blick fällt auf die unzähligen Menschen am Boden, die nur als kleine schwarze Punkte zu erkennen sind. Was werden sie wohl heute tun? Was ist ihre Geschichte? Diese fremden Menschen, die ganz alltäglichen Dingen nachgehen, die ihr Leben leben – sie hätte eine von ihnen sein können, oh ja, das hätte sie. Doch stattdessen sitzt sie hier, alleine in diesem Zimmer, unfähig ein normales Leben zu führen.

Ihr Blick schweift in die Ferne, auch ihre Gedanken schweifen ab. Sie meint, die Berge am Horizont zu erkennen, auch wenn sie weiß, dass das nicht möglich ist. Und doch sieht sie es vor sich: Das alte Herrenhaus inmitten der Berge, die Pferde, die das saftige Gras der grünen Wiesen abpflücken, die Vögel, die am Himmel kreisen, jeder von ihnen singt seine eigene Melodie. Oh ja, sie hatte es geliebt dort zu leben, dieses Gefühl von Freiheit inmitten der Natur.

Doch da dringen auch schon andere Bilder in ihr Bewusstsein. Sie sieht es vor sich, die Angst in den Augen ihrer Mutter, die blauen Flecke auf den Armen ihrer kleinen Schwester, gut versteckt unter den langen Ärmeln der steifen weißen Bluse. Ein eiskalter Schauer läuft ihr über den Rücken, als sie sich an das nächtliche Knarren der Tür erinnert. Sie sieht das Gesicht ihres Vaters vor sich und wie damals ist sie vor Panik wie erstarrt, erwartet das Unausweichliche.

Das Zwitschern eines Vogels holt sie zurück in die Realität. Ihr Blick wird wieder klar und fällt auf die breite Fensterbank des offenen Fensters. Ein kleiner Vogel, ein Spatz, hat sich darauf niedergelassen. Er schaut sie aus kleinen schwarzen Augen vertrauensvoll an, es scheint fast, als wolle er sagen, dass alles wieder in Ordnung kommen kann.

Der Vogel breitet seine kleinen Flügel aus und fliegt davon, schon bald ist er nur noch als kleiner Punkt in der Ferne zu erkennen.

„Er ist frei, du könntest das auch sein“, flüstert eine Stimme in ihrem Kopf. „Ich weiß du willst es.“

Plötzlich ist ihr Kopf leer, sie ist glücklich. Lächelnd steigt sie auf die breite Fensterbank und schließt die Augen. Als ihr zweiter Fuß ins Leere tritt, ist das Letzte was sie hört das Zwitschern der Vögel.

„Jetzt bin ich frei.“

Sarah Beyer, 10. Klasse