Edward Hopper – Room in New York

Sie hatte ihn verloren

 

Wie jeden Abend saß er in seinem Sessel und las Zeitung. Mit leicht vorgebeugtem Rücken studierte er aufmerksam, was in der Welt so vor sich ging. Das war alles, was ihn noch interessierte. Seit er seine Arbeit verloren hatte, war ihm alles andere egal – bis auf seine Zeitung. Wenn ihm die nicht jeden Abend von seiner Frau auf den Tisch gelegt wurde, war er sauer. Und zwar richtig. Dann schrie er sie an und tobte und schlug um sich. Wenn er sie auch sonst nicht mehr beachtete, dann bekam sie alles ab. All den Frust darüber, dass er gefeuert wurde, dass er nun nutzlos auf dieser Welt war. All dies bekam seine Frau dann zu spüren. Er wusste, dass es nicht richtig war, wie er sie behandelte, doch er war machtlos. Er konnte nichts gegen diese unbändige Wut, dieses Gefühl nahe der Ohnmacht tun, wenn er seine Zeitung abends nicht auf dem Tisch liegen sah.

Den Tag über schlief er. Erst gegen 19.00 Uhr erhob er sich aus dem Bett und zog sich an. Setzte sich in den Sessel und fing an zu lesen. Das ging so bis in die frühen Morgenstunden. Wenn er mit der Zeitung fertig war, jeden einzelnen Artikel verschlungen hatte, fing er von vorne an. Immer und immer wieder.

Wenn er dann müde wurde, ging er in das Zimmer. Das Zimmer, in dem er seit seiner Entlassung die Zeitungen sammelte. Sie stapelten sich schon bis an die Decke. Keine einzige hatte seine Frau wegschmeißen dürfen.

Ein paar mal hatte sie es versucht, doch nachdem er jedes Mal einen Wutanfall bekommen hatte, bei dem sie fürchtete, er würde ihre gesamte Wohnung zertrümmern, ließ sie ihn machen. Ließ ihn seine Zeitungen lesen, stapeln und liebevoll pflegen, wie andere es mit ihren Gärten tun. Jeden Nachmittag nach der Arbeit kaufte sie eine Zeitung und brachte sie mit nach Hause. Dort legte sie sie auf den Tisch und wartete darauf, dass ihr Mann aufstand, sich an den Tisch setzte und anfing zu lesen. Sie machte noch die Abrechnungen und ging ins Bett. Sie hatte längst begriffen, dass er nicht mit ihr reden würde. Er würde sie nicht fragen, wie ihr Tag gewesen war. Er würde ihr auch nicht für die Zeitung danken. Sie hatte längst begriffen, dass sie ihn verloren hatte.

Katrin Gruber, 10. Klasse